Lass die Welt dich spüren: Über die politische Dimension des Kinderliedes

– Ein Gespräch mit Frank Bode, Unmada (Manfred Kindel) und Matthias Meyer-Göllner –

v.l. Matthias Meyer-Göllner, Frank Bode und Unmada (Manfred Kindel)

v.l. Matthias Meyer-Göllner, Frank Bode und Unmada (Manfred Kindel)

Beim 1. Oberlausitzer Kindermusikfestival bildeten sie zusammen die Gruppe „Singen in verschiedenen Sprachen“. Für Konzerte in Görlitz und Bautzen wurden dafür Teile ihrer Lieder ins Sorbische und ins Polnische übertragen. Gemeinsam mit Kinderchören brachten sie dieses einzigartige Programm auf die Bühne.

Frank Bode kommt aus Herzberg am Harz und ist Liedermacher und seit Kurzem auch engagierter Torwarttrainer im Fußballverein seiner beiden Söhne. Unmada zählt zu den Legenden der deutschen Kinderliedszene, seiner Heimatstadt Hannover hat er mit dem Kinderwald ein nachhaltiges Projekt geschenkt, das ihm seit über 20 Jahren auch Inspirationsquelle für seine Lieder ist.

Im Gespräch mit Matthias Meyer-Göllner von der Ostsee aus Kiel spüren sie der politischen Dimension des Kinderliedes nach. Dafür trafen sie sie sich in der „Spree-Pension“ in Bautzen.

Matthias: In Zeiten wie diesen: Hat das Kinderlied da überhaupt noch eine politische Dimension? Hatte es das jemals?

Frank: Ich finde, das hatte es zu allen Zeiten, denn gerade in schwierigen Zeiten, sollten wir daran denken, wie früh wir anfangen, Kindern etwas vorzuleben, was sich später auf die Gesellschaft auswirkt.

„Die Kinderliedkultur ist Teil der Erziehung für Kinder“

Unmada: Das Kinderlied ist schon dadurch politisch, dass die Kinder die Zukunft sind. Sie werden uns überleben und die Zukunft gestalten. Wie sie sie gestalten, hängt davon ab, wozu sie in der Kindheit befähigt wurden. Wenn sie so etwas wie Verantwortung früh lernen, werden sie auch Verantwortung übernehmen. Sie werden die Dinge schützen, die ihnen lieb und wert sind. Die Kinderliedkultur ist Teil der Erziehung und somit auch Teil der Orientierung für Kinder. Das wird auch in die politische Welt hineinragen.

Matthias: Aber sind nicht Kinderlieder mit politischen Botschaften das nervigste, was es überhaupt gibt?

Frank: Ich glaube, es braucht keine Botschaft. Kinder haben sowieso die Aufmerksamkeit, viele Dinge zu entdecken. Und ein Kinderlied kann auch Sachen zeigen und entdecken. Es gibt dann nur eine weitere Dimension für ein Kind, die auch Dinge umfasst, die uns als Kinderliedermacher interessieren und neugierig machen.

Matthias: Das würde ja bedeuten: Ein Kinderlied ist sowieso immer politisch, egal welchen Inhalt es hat.

Unmada: Früher gab es ja die Idee – z.B. bei Fredrik Vahle mit der „Rübe“ – Kindern linke Solidaritätsideen zu vermitteln. Das Kinderlied stand in der Agitprop-Tradition: Über Lieder zu versuchen, politisches Bewusstsein zu verändern. Das ist ja in gewisser Weise gescheitert. Andererseits werden die Kinder mit ganz anderen Botschaften vollgestopft …

Matthias: Zum Beispiel?

Unmada:  Zum Beispiel Inhaltslosigkeit.

„Ein gutes Kinderlied kann ein anderes Bewusstsein schaffen – das ist grundpolitisch“

Frank: Nicht zensierte Medien, die auf sie einstürmen. Da kann ein gutes Kinderlied – ähnlich wie ein gutes Kinderbuch – ein Gegengewicht sein, um ein anderes Bewusstsein zu schaffen. Das ist grundpolitisch.
Unmada: Die Aufgabe eines neuen Kinderliedes ist es auch, die Lebenswirklichkeit der Kinder zu spiegeln und dem Kind damit Orientierung zu geben.

Matthias: Wird in Kinderliedern aber nicht oft eine Scheinwelt vorgespielt, die nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun hat? Und schon gar nichts mit der politischen Realität?

Frank: Das hängt mit der Qualität des Kinderliedes zusammen. Auch in der Musik für Erwachsene wird in bestimmten Bereichen wie Volksmusik und Schlager von einer schönen Welt erzählt. Die schöne Welt aber wirklich zu sehen und auf eine poetische Art zu beschreiben, ist eine andere Qualität. Wenn man zum Beispiel eine Einstellung beschreibt, die tief geht, die zu etwas führen kann und zum Handeln verleitet, dann ist es ein gutes Lied. Das gilt sowohl für Kinderlieder als auch für Lieder für Große.

Matthias:  Nehmen wir mal das Beispiel Indianer. Wenn du ins Kinderlied guckst, dann ist der Indianer ein lebenslustiger, ständig ums Feuer tanzender, laut heulender Mensch, der ständig auf Büffeljagd geht (mich selbst eingeschlossen). Das hat ja wenig mit irgendeiner jemals existenten Realität von Indianern zu tun, sondern eher mit einer Abziehbildvorstellung, wie sie von Karl-May-Romanen ins Leben gerufen wurde.

Frank: Das gilt für Ritter und Piraten genauso.

„Den Kindern Erlebnisse ermöglichen“

Unmada: Da triffst du bei mir einen Nerv. Ich habe viel indianische Lieder, aber eben Lieder, die aus deren Kultur kommen. Ich versuche, die Indigenen dabei einzubeziehen, und wenn ich es übersetze, die eigentliche Aussage nicht zu verstellen. So, dass Aussagen ihrer Kultur auch in unserer Sprache verstanden werden können. Auch da ist es wichtig, dass die Wirklichkeiten wiedergegeben werden.

Der „Indianer“ ist ein Archetyp. Meine indianischen Freunde sind oft überrascht über die Wertschätzung, die sie zum Beispiel in Deutschland erfahren. In Amerika werden sie eher geringgeschätzt. Da ist das Verhältnis zu ihnen vergleichbar unserem Verhältnis zu Sinti und Roma: Man traut ihnen nicht über den Weg.

Kinderliedermacher Frank Bode

Kinderliedermacher Frank Bode

Der Archetyp belebt allerdings viele Bereiche, die für das Kind wichtig sind: Die Nähe zur Natur, das Thema der Wildheit. Dabei gibt es den „edlen Wilden“ in Wirklichkeit gar nicht.

Matthias: Das sind eben diese Karl-May-Stereotypen.

Unmada: Naja, die indianischen Freunde, die ich habe, leben zum Teil „in der Wildnis“, z.B. in Kanada. Da ist das Wilde, das Unzivilisierte durchaus Thema, auch in der Realität. Es kommt dann darauf an, den Kindern Erlebnisse zu ermöglichen: Was ist diese Wildnis? Ein Indianerlied nicht nur mit „Wir machen alle Hu-hu-hu“ zu machen, sondern zum Beispiel mit einer Aktion zu verbinden: Wir gehen gemeinsam in den Wald und übernachten dort. Wie kann man in solchen Verhältnissen überleben? Welches Knowhow muss man haben, um das zu können? Dann bekommt das Indianerlied eine ganz andere Bedeutung.

Frank: Das ist die eine Seite: Die Indianerrealität wiederzugeben und zu spiegeln. Die andere Seite wäre – mit Blick auf meine eigene Kindheit – dem Kind eine Spielwelt zu erlauben. Du begibst dich jetzt mal ins Reich der Ritter, ins Reich der Piraten, ins Reich der Cowboys. Da steckt Romantik drin, ein Träumen dürfen. Und ich glaube, dass man es als Kinderliedermacher schaffen kann, in einem Lied sowohl diese Romantik zu bedienen, als auch im Lied noch eine Tür zu öffnen: Hast du mal überlegt? Das ist vielleicht gar nicht so …

„Haben christliche Kinderlieder eine politische Dimension?“

Unmada: Ich glaube, dass das auch der erste Zugang ist. Ich habe meine Begeisterung für Indianer ja auch darüber bekommen. Dann ist es aber wichtig, auch den Schluss zu machen: Kinder fragen manchmal, ob es Indianer wirklich gibt. Sie verbannen das zunächst ins Reich der Fantasie – wie Elfen und Feen und Zwerge. Da muss man dann sagen: Ja, die Indianer leben da und dort z.B. in Südamerika, sie haben teilweise eine leidvolle Geschichte hinter sich und es gibt auch heute noch eine besondere Nähe zur Natur und eine Art von Religiosität, die man in unserem Kulturkreis nicht mehr findet.

Matthias: Religiosität ist ein interessantes Stichwort. Es gibt einen ganz großen Bereich der Kinderlieder, die aus der religiösen Tradition kommen, vor allem christliche Kinderlieder. Haben die auch eine politische Dimension?

Frank: Absolut. Das siedle ich dann auch im Bereich der Fantasiewelten an. Bei Rittern landet man irgendwann in einer historischen Realität: So war es tatsächlich im Mittelalter. Bei Cowboys und Indianern auch. Einhorn und Elfen bleiben in dieser Phantasiewelt. Dort siedle ich auch Fragmente der Religion an. Was ist Gott? Was ist das Leben? Was ist der Tod? Was ist die Liebe? Dafür gibt es ja diese Symbole …

Matthias: Welche Symbole?

Frank: Die Fantasiewesen Einhorn und Elfen zum Beispiel. Diese Welt stelle ich daneben, wenn meine Kinder mich fragen: Gab es Jesus wirklich? Gibt es Gott eigentlich wirklich? Gibt es ein Einhorn, eine Elfe wirklich? Was können wir aus dieser Phantasie machen? Was ist der Glauben? Ich finde es manchmal ähnlich naiv, Geschichten über Gott zu erzählen, die man für wahr verkauft, wie daran zu zweifeln, ob es Einhörner gibt. Es gibt die Phantasie und die Möglichkeit, in der Realität damit umzugehen.

„Wir müssen Kinder befähigen, Fragen zu stellen“

Unmada: Das ist etwas Grundsätzliches: Ich glaube, dass wir Kinder befähigen müssen, Fragen zu stellen. Dass sie selber auf die Suche gehen und ihre Antworten finden.

Alles, was ihnen fertige Antworten anbietet und sagt: „So ist es jetzt!“ halte ich für nicht so gut. Das Gefühl habe ich manchmal bei bestimmten christlichen Liedern: Die Antworten sind alle fertig und müssen nur noch nachvollzogen werden. Das finde ich schwierig. Wenn das Lieder sind, in denen die Kinder fragen, und man sagt: „Ich hab diese Antwort dafür gefunden“ und das authentisch kann, finde ich das legitim. Ich finde nicht, dass man Kinder auf diese Art und Weise indoktrinieren sollte.

Es geht ja um Fragen, die jeder sich stellt. Ich kann für mich sagen, dass ich da immer noch Fragender bin. Das ist ja nichts Schlimmes. Das ist ja eine Haltung, wie ich mich der Welt nähere. Wenn ich die mit den Kindern teilen kann, dann befähige ich sie zu etwas ganz Wertvollem. Die Antworten kommen ja nicht von Menschen, sondern die kommen aus dem aus dem Leben selbst, das zu einem spricht.

Matthias: Also, du hast schon ein festes Bild von der Welt und von dem, was gut und was schlecht ist, du sagst aber nicht: „So musst du es auch sehen“, sondern „ich biete dir das an. So bin ich und das kannst du annehmen, hinterfragen und abwandeln.Im Gegensatz zu der Haltung „So ist die Welt und so musst du es auch sehen.“

Unmada: Gut ist, wenn Kinder in die Seins Qualität geführt werden. Wenn sie selber spüren, dass sie da sind und dass sie teilhaben an der Welt. Und dass sie befähigt sind, diese Teilhabe auch zu leben. Was ich also versuchen kann, ist, in dieser Welt zu sein. Mit meiner Präsenz, mit meinen Erfahrungen, mit meinen Schätzen aber auch mit meinen Fragen, mit meinen Fehlern, mit meiner Unvollkommenheit.

Frank: Ich sehe das genauso. Ich vermittle den Kindern, wenn ich Kinderlieder singe, dass meine Sicht eine Möglichkeit ist, die Welt zu sehen.

„Kindern zu sagen, ihr müsst perfekt sein, wäre verkehrt“

Matthias: Aber ich kann bei mir persönlich nicht von einem geschlossenen Weltbild sprechen. An vielen Stellen sind es 60:40-Entscheidungen, die bestimmen, was ich finde und tue. Ist es nicht schwierig, Kinder damit zu konfrontieren, sie damit allein zu lassen? Brauchen sie nicht mehr Orientierung, mehr Struktur von uns?

Frank: Sie brauchen die Orientierung, dass wir uns auch Schwächen erlauben dürfen und Fehler machen. Dass wir selbst manchmal nicht wissen, wie es weitergeht. Und das stärkt sie. Kindern zu sagen, ihr müsst perfekt sein, wäre verkehrt. Wir sind auch nicht perfekt. Würden wir ihnen das vorgaukeln, ginge es nicht weiter. Wenn wir Kindern sagen: Ich versuche, immer mein Bestes zu geben, mehr kann ich nicht. Das kannst du auch. Und wenn du Schwächen und Fehler hast, versuche, das jemandem zu erzählen. Dann kommst du ins Gespräch. Und an dieser Stelle wird es dann hochpolitisch. Denn dann geht es nicht von oben herab, sondern führt zu richtigen Gesprächen.

Unmada auf Endeckungsreise

Unmada auf Endeckungsreise

Unmada:  Die Orientierung muss sein, dafür sind wir erwachsen. Die Kinder müssen teilhaben können an unserer Erfahrung. Es gibt natürlich Wissen, das man vermitteln muss. Das ist aber nicht das entscheidende. Die eigentliche Kompetenz liegt darin, dass man sich selbst gern hat in seiner Unvollkommenheit. Von dieser Basis aus nimmt man teil am Leben und sieht, dass man das Leben mitgestalten kann, für sich und für andere.

Wir sind nicht nur auf der Welt, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um in die Welt zu wirken mit einem Geist, von dem wir uns immer wieder erfüllen lassen müssen. Das ist für mich Religiosität. Wenn wir davon erfüllt sind, können wir zu etwas werden, was die Welt besser macht. Nicht der Mensch macht die Welt besser, sondern das, was ich Bewusstsein nennen würde.

Frank: … und somit letztlich jeder Mensch und jedes Kind. Wir leben das vor und Kinder bekommen dadurch den Mut, später zu sagen: Ich mach das so, wie ich es empfinde.

„Sei mutig, geh die Welt an, spüre dich in der Welt und lass die Welt dich spüren“

Matthias: Also: Sei mutig, geh die Welt an, spüre dich in der Welt und lass die Welt dich spüren.

Unmada: Genau. Und wenn Kinderlieder dabei helfen und nicht nur betäuben, oder wie Betüddelungsdrogen wirken oder durch Vereinfachung von der Wahrheit ablenken, dann sind sie auf einem guten Weg.

Matthias: Ich danke euch für das Gespräch.

 

 

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4 Antworten

  1. Anders Orth sagt:

    Sehr schön und tiefgängig! Danke Euch!

  2. Eine Busfahrerin und ich stellten neulich fest, dass unsere musikalische und auch politische Sozialisation mit den Liedern des Grips-Theaters begonnen hat. Da steckt schon Kraft darin, und auch viel Moral, grade, wenn es um die Frage geht:“Was ist eigentlich Gerechtigkeit?“

  3. So ein bisschen Lebenseinstellung wächst schon durch kulturelle Impulse. Auch wenn Vahles Agitprop (hatte er das Wirklich im Sinn , oder war es nur der Zeitgeist?) nicht so richtig zog, haben seine Lieder doch ein Lebensgefühl hinterlassen. Ähnlich wie Astrid Lindgrens Bücher oder die Hörspiele von Bibi Blocksberg, die früher ebenfalls gesellschaftliche Fragestellungen aufgriffen. Politik ist etwas , in dem sich Kinder tagtäglich befinden und kein abstraktes Produkt. Nicht ohne Grund befindet sich in den kommunalen Bildungsleitlinien für elementare Bildungseinrichtungen der Aspekt: Ethik,Kultur Religion bzw. Politik und Gesellschaft. Kinder haben eine Moralvorstellung , und ganz eigene Fragestellungen zum Erlebten. Das sollte man einfließen lassen in die Kunst,muss es aber nicht. Denn da wo Menschen friedlich und musizierend zusammenkommen ist gefühlt schon mehr gewonnen, als durch jegliche politische Agitation oder Moralfingerschwenkung.

  4. Matthias sagt:

    Hmmm…nach dem Motto „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder“? Ich glaube, in dem Moment, in dem wir „Kinderlieder“ als solche bezeichnen, stellen wir schon eine ganze Menge politischer, pädagogischer und moralischer Forderungen auf.
    Wenn wir die dann im nächsten Nebensatz gleich wieder für nichtig erklären, kommt schnell ein unguter, kommerzieller Beigeschmack auf. Nach dem Motto: Danke für den Schonraum, mal sehen, ob sich da nicht was verdienen lässt…

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